Plutarch
Cornelia als politische Akteurin?
Der um 45 n. Chr. im griechischen Chaironeia geborene Plutarch wandte sich Cornelia im Zusammenhang mit seinen sogenannten Parallelbiographien zu.[1] In diesen nach 96 n. Chr. begonnenen Werken stellte Plutarch gewöhnlicherweise einen prominenten Protagonisten der griechischen Geschichte einem römischen Äquivalent gegenüber und verglich beide miteinander.[2] Allerdings behielt er diese Gegenüberstellung nicht konsistent bei. Cornelia nämlich wird in jenen Parallelbiographien erwähnt, die Tiberius und Gaius Gracchus, also ihren eigenen Söhnen, gewidmet waren. In diesem Fall verglich er also zwei Römer miteinander.
Plutarch selbst war ein Grieche, der sich zwar durchaus in das Imperium Romanum integriert fühlte, seine Werke allerdings dennoch auf Griechisch verfasste.[3] Hinsichtlich des Gehalts seiner Schriften ist dieser Umstand nicht unproblematisch, denn dies hatte zur Folge, dass Latein für ihn Zeit seines Lebens eine Fremdsprache blieb.[4] Er selbst war es, der auf diesen Umstand hinwies und damit die Frage aufwarf, inwieweit er überhaupt in der Lage gewesen sein konnte, den Inhalt der lateinischen Quellen, auf die er sich bei seiner Arbeit stützte, hinreichend zu verstehen: „For it was not so much that by means of words I came to a complete understanding of things, as that from things I somehow had an experience which enabled me to follow the meaning of words.“[5]
Auch Plutarchs allgemeiner Umgang mit seinen Quellen wurde in der Forschung bereits kritisch diskutiert. Eine Methode, die Christopher Pelling in diesem Zusammenhang in den Vordergrund gerückt hat, ist u. a. die bewusste Schaffung eines Kontextes, selbst wenn die spärliche Quellenlage ihm dies eigentlich unmöglich machte. Pelling unterstellt Plutarch hiermit die bewusste Erfindung von Ereignissen, um erzählerische Lücken zu füllen und eine bessere Nachvollziehbarkeit seiner Werke zu ermöglichen.[6]
Auch betont Pelling immer wieder auftretende und bisweilen unerklärliche Unregelmäßigkeiten in seinem Stil: „His historical judgements are sometimes insightful, sometimes strangely unsophisticated. His characterization often impresses with its perceptiveness; it sometimes irritates with its triviality.“[7]
Das exakte Jahr der Entstehung der Parallelbiographie der Gracchen ist nicht bekannt, wird aber, wie bereits erwähnt, in der Phase zwischen 96 n. Chr. und Plutarchs Tod verortet, der sich in der Zeit vor 125 n. Chr. ereignet hat.[8] Christopher P. Jones datiert die Gegenüberstellung der Gracchen in die Phase vor 116 n. Chr.[9]
In jedem Fall jedoch entstand die Quelle rund 200 Jahre nach dem Tod Cornelias, wodurch eine erhebliche zeitliche Distanz zu den beschriebenen Ereignissen besteht. Gemeinsam mit der fraglichen Fähigkeit Plutarchs, seine Quellen korrekt zu deuten, sowie einem immer wieder auftretenden leichtfertigen Umgang mit seinen Quellen, sollte auch dieser Umstand im Hinblick auf den Gehalt seiner Aussagen unbedingt kritisch hervorgehoben werden.
Scardigli hebt das bloße Vorkommen eines „wörtliche[n] Fragment[es] aus einer Rede des Tiberius sowie […] Briefe der Brüder, bzw. ihrer Mutter […]“[10] nichtsdestotrotz grundsätzlich als „[…] guten Einblick in den Geist und die Problematik der Zeit“[11] hervor, wenngleich strittig bleibt, welche Quellen Plutarch letztlich genau zur Verfügung standen.[12]
Auf der inhaltlichen Ebene zeichnet Plutarch ein ambivalentes Bild der Cornelia. Einerseits stilisiert er sie als pflichtbewusste Matrona, die sich selbst zum Wohle ihrer Kinder stets zurücknehme. Nicht einmal durch die Aufwartungen eines Königs habe sie sich dazu hinreißen lassen, ihre mütterlichen Pflichten zu vernachlässigen. So habe sie es abgelehnt, Königin von Ägypten an der Seite von Ptolemaios VI. zu werden, um stattdessen Witwe zu bleiben.[13]
Andererseits zeichnet Plutarch nicht nur das Bild einer rein häuslichen und politisch unambitionierten Cornelia. Zugleich nämlich habe sie schon früh starken Einfluss auf die Erziehung ihrer Söhne genommen: „[…] although no other Romans were so well endowed by nature, they [Tiberius und Gaius Gracchus] were thought to owe their virtues more to education than to nature.”[14]
Im Zusammenhang mit der gracchischen Agrarreform, die Tiberius Gracchus während seines Volkstribunats 133 v. Chr. vorantrieb und die eine zunehmende Akkumulation von Ackerland bei Großgrundbesitzern durch Landumverteilung an Kleinbauern unterbinden sollte,[15] nannte Plutarch auch Cornelia als mutmaßliche treibende Kraft hinter diesem politischen Programm. Sie habe ihren Söhnen vorgeworfen, dass man sie in Rom noch immer nur die Schwiegermutter Scipios, nicht aber die Mutter der Gracchen nennen würde.[16]
Zweifelsohne lässt sich in dieser Darstellung durchaus eine gewisse Unzufriedenheit der Mutter über das politische Handeln ihres Sohnes erkennen, die – sofern man Plutarch in diesem Punkt folgt – auch offen zur Aussprache kam und politische Reformen nach sich zog, die ohne Cornelias Impuls so nicht zustande gekommen wären. Damit bricht diese Darstellung mit dem klassischen Bild der römischen Matrona, die sich nicht in politische Debatten einbringt. Dennoch birgt die Textstelle auch einige Unklarheiten.
Zum einen legt sich Plutarch nicht zweifelsfrei auf Cornelia als (alleinige) Anstifterin der Reformen fest. Ebenso nennt er den Rhetoriker Diophanes aus Mytilene und den Philosophen Blossius aus Cumae als mögliche Einflussnehmer.[17]
Darüber hinaus bleibt die Frage offen, ob die Agrarreformen überhaupt vorrangig auf einer Anstiftung durch einen oder mehrere Dritte beruhten. So weist Jochen Bleicken darauf hin, dass sich Tiberius seit der Kapitulation des römischen Heeres vor Numantia 137 v. Chr. während des Widerstandes gegen die iberischen Stämme in einem andauernden Zwist mit dem Senat und der römischen Nobilität befunden habe. Obwohl Tiberius durch seine Abstammung den höchsten Kreisen Roms angehörte, habe er sich durch die maßgebliche Mitverantwortung des Kapitulationsvertrages mit den Numantiern, der in Rom annulliert und als Schmach empfunden wurde, in einer prekären politischen Lage befunden, die er nicht nur als „[…] jähen Bruch [seiner] politischen Laufbahn […]“, sondern mehr noch als existenzielle Bedrohung seiner gesamten politischen Karriere empfunden haben könne.[18] Insofern ließe sich die Agrarreform von Tiberius Gracchus auch als eigenmächtig initiiertes Vorhaben zur Rettung seiner politischen Karriere deuten.
Da weder die Hintergründe von Tiberius Agrarreform noch Cornelias mögliche Verstrickung darin an dieser Stelle umfassend erörtert werden können, soll abschließend eine weitere Textstelle Plutarchs betrachtet werden. Diese entstammt derselben Parallelbiographie, allerdings dem Teil, der sich mit Tiberius Bruder Gaius Gracchus befasst.
Auch hierbei handelt es sich um eine sehr ambivalente Textstelle hinsichtlich der möglichen Verstrickung Cornelias in die politischen Aktivitäten ihrer Söhne.
Plutarch berichtet, dass es nach Gaius gescheiterter dritten Kandidatur zum Volkstribun zu einem offenen Konflikt zwischen seinen Anhängern und Rom bzw. den neuen Konsuln Quintus Fabius Maximus Allobrogicus sowie Lucius Opimius gekommen sei.[19] Grund hierfür sei u. a. die Rücknahme zahlreicher Gesetze gewesen, die zuvor noch von Gaius beschlossen worden waren.[20]
Gemäß Plutarch existierten zu seiner Zeit zwei gegensätzliche Meinungen hinsichtlich der Verstrickung Cornelias in die aufrührerischen Aktivitäten ihres Sohnes. Zum einen sage man ihr nach, sie habe durch die Entsendung ausländischer „[…] θεριστάς […]“ – zu Deutsch ‚Schnittern‘ bzw. ‚Erntehelfern‘ – nach Rom direkt an der Intrige mitgewirkt.[21] Bereits die Wortwahl erschwert eine eindeutige Interpretation hier allerdings erheblich. Die Sense als übliches Arbeitsgerät bei der Getreideernte legt zwar eine metaphorische Bedeutung nahe, sodass mit den Erntehelfern auch ‚Sensenmänner‘ oder allgemein bewaffnete Männer gemeint sein könnten, um ihrem Sohn im Konflikt mit der Nobilität beizustehen. Allerdings fehlt es ohnehin an hinreichenden Belegen, um die Authentizität dieser mutmaßlichen Briefinhalte zu bestätigen.
Weder scheinen die Briefe Plutarch direkt als Quelle zur Verfügung gestanden zu haben, noch legt er sich selbst auf diese Version fest. Im darauffolgenden Satz erwähnt er vielmehr eine gegensätzliche These: Cornelia sei nicht nur nicht persönlich in Gaius Intrige involviert gewesen, sondern habe diese darüber hinaus auch abgelehnt.[22]
Plutarch liefert damit abschließend keine klare Aussage darüber, ob und falls ja in welchem Umfang Cornelia auf die politischen Entscheidungen ihrer Söhne Einfluss genommen hat. Angesichts dessen, dass Plutarch wie bereits eingangs erwähnt dafür bekannt ist, episodenhaft in einen unbedarften und wenig reflektierten Umgang mit seinen Quellen zu verfallen, muss zumindest befürchtet werden, dass auch die zitierten Stellen von dieser Unbedarftheit betroffen sein könnten.
Selbst für den Fall, dass Plutarch sehr gewissenhaft mit seinen Quellen umgegangen ist, zeichnet sich bei den zitierten Stellen doch ab, dass er häufig zwei völlig gegensätzliche Traditionen präsentiert und den Lesern schließlich die Wahl überlässt, welcher Version sie nun folgen mögen. Das beste Beispiel liefert hierfür wohl die zuletzt zitierte Textstelle, in der Cornelia zugleich mit Hochverrat durch die Entsendung bewaffneter Männer zum Schutz ihres Sohnes wie auch einer strikten Ablehnung von dessen politischen Entscheidungen in Verbindung gebracht wird.
Im Hinblick darauf, inwiefern Cornelias literarische Darstellung der Konstruktion einer bestimmten moralischen Rolle der Frau gedient haben kann, sind seine Ausführungen deshalb aber keineswegs unbrauchbar. In den zitierten Textstellen zeigt sich eindeutig, dass die Debatte darüber, wer Cornelia war und welchem Rollenbild sie entsprochen hat, die römische Geschichtsschreibung bis in Plutarchs Zeit hinein bewegte. In den rund 200 Jahren seit ihrem Tod haben sich offensichtlich gegensätzliche Haltungen in dieser Frage herausgebildet, die letztlich ein Spannungsfeld zwischen einer sehr häuslichen, tugendhaften und mütterlichen sowie einer politisch ambitionierten und indirekt einflussreichen Cornelia eröffnen.
[1] Pelling 2000, Sp. 1159.
[2] Ebd., Sp. 1160f.
[3] Scardigli 1979, 04ff.
[4] Plut. Dem. 2,2.
[5] Ders. 2,3: „οὐ γὰρ οὕτως ἐκ τῶν ὀνομάτων τὰ πράγματα συνιέναι καὶ γνωρίζειν συνέβαινεν ἡμῖν, ὡς ἐκ τῶν πραγμάτων ἁμῶς γέ πως εἴχομεν ἐμπειρίαν ἐπακολουθεῖν δι᾽ αὐτὰ καὶ τοῖς ὀνόμασι.“ (übers. v. B. Perrin).
[6] Pelling 2002, 95f.
[7] Ebd., 107.
[8] Pelling 2000, Sp. 1160.
[9] Jones 1995, 113.
[10] Scardigli 1979, 61.
[11] Ebd., 62.
[12] Ebd.
[13] Plut. Tib. Gracch. 1,4.
[14] Plut. Tib. Gracch. 1,5: „[…] ὥστε πάντων εὐφυεστάτους Ῥωμαίων ὁμολογουμένως γεγονότας πεπαιδεῦσθαι δοκεῖν βέλτιον ἢ πεφυκέναι πρὸς ἀρετήν.“ (übers. v. B. Perrin).
[15] Bringmann 2001, Sp. 392.
[16] Plut. Tib. Gracch. 8,5.
[17] Plut. Tib. Gracch. 8,4.
[18] Bleicken 1988, 272ff.
[19] Quintus Fabius Maximus Allobrogicus wird an dieser Stelle nicht erwähnt, wurde aber zeitgleich mit Lucius Opimius im Jahre 121 v. Chr. zum Konsul gewählt. Hierzu siehe auch: Elvers 1998, Sp. 371.
[20] Plut. C. Gracch. 13,1.
[21] Plut. C. Gracch. 13,2.
[22] Ebd.